Sept

Oma läuft Weltrekord Franchir la ligne… vivant

«Bin ich der Einzige am Start, schau ich einfach, dass ich lebend über die Ziellinie komme.»
Charly Eugster, 97 Jahre alt.

Die Ausfahrt aus der Tiefgarage nimmt sie wie ein Rennfahrer nach dem Boxenstopp. Dem Verkehrskadetten an der Kreuzung f ährt sie beinahe über die Schuhspitzen. Vor dem Berner Hauptbahnhof wirft ein Buschauffeur die Hände in die Luft, als sie plötzlich auf seine Spur wechselt. Ungerührt schaltet Margaritha Dähler in den nächsten Gang. Probleme kennt sie nicht.

Oder fast nicht. Klar ärgert sie, dass sie just heute Morgen vor dem Fernseher statt im Bett aufgewacht ist. Und dass eine Grippe nicht das volle Trainingsprogramm zuliess. Dazu gehören Technikwürfe mit Gummihammer und Medizinball. Sprünge über den Schwedenkasten und auf der Mattenbahn. Laufen draussen und in der Halle. Brustpresse, Beinbeuger und Rückenstrecker im Kraftraum. Und einmal pro Woche Volleyball in einer Männergruppe, weil Männer schneller und härter als Frauen spielen. «So Sachen halt», sagt sie. Was eine siebzigjährige Fünfkämpferin eben für den Wettkampf braucht.

- Was musst du nur kompensieren? fragte eine Freundin.

- Haben Sie Probleme? erkundigte sich ihr Hausarzt.

- Miete doch ein Zimmer beim Sportwart, höhnte ihr Mann.

- Du bist im Stadion zu Hause, warf ihr die erwachsene Tochter vor.

Sie hatte versucht, ihre Mutter auf einen altersmässig passenderen Sport umzupolen. Doch ihr Weihnachtsgeschenk, die Nordic- Walking-Stöcke, stecken noch immer in der Originalverpackung.

Auf der Autobahn fädelt Margaritha zwischen Lastzügen und Tiefladern ein, überholt Lieferwagen, grell beklebt mit Markenzeichen und Werbeslogans. Alle drängeln, alle überholen – neue Zufuhr für die Produktionsstätten der Leistungsgesellschaft. Margaritha mag, wenn alles im Fluss ist. Leistung und ihre Begleitumstände stören sie nicht. Im Gegenteil. Wer Sport treibt, weiss: Es gibt nur Sieger und Verlierer, und wer sich nicht immer ein höheres Ziel setzt, wird abgehängt.

So dachten bisher nur junge Athleten. Senioren bevorzugten das Altersturnen oder die Rheumaliga. Danach sassen sie in der Beiz beim Bier zusammen, und das zählte genauso viel wie die Anzahl Klimmzüge oder Liegestütze in der Turnhalle. Suchte ihr Sportverein Hilfskräfte für die Organisation des jährlichen Spaghetti-Essens oder den Weihnachtsbasar, standen sie gern und jederzeit zur Verfügung.

Damit ist jetzt Schluss. Verglichen mit dem früheren Turnen erscheinen sportlichen Senioren die neuen Trainingseinheiten für die Master-Leichtathletik wie ein Rockkonzert neben einem Lottoabend im Kirchgemeindehaus.

Allein der Name – Master! Er adelt nicht nur den Schweiss älterer Menschen. Er adelt auch die Menschen selbst. Eben noch waren sie gesellschaftlich und beruflich Gewesene. Jetzt sind sie Leute, die noch immer den Überblick und das Leben im Griff haben. Früher rackerten sie sich an Sprossenwänden ab; jetzt stellen sie sich ins blitzende Gestänge der Krafträume. Einst turnten sie mit Kollegen; jetzt kämpfen sie gegen Rivalen, deren Rangliste sie im Internet so genau verfolgen wie andere die Börsenkurse. Bis es eines Tages für die ganz grosse Bühne reicht. Besonnt von Scheinwerferlicht, stehen sie auf dem Siegertreppchen einer Weltmeisterschaft. Nicht nur Master – Master of the Universe!

In Magglingen [das schweizerische nationale Sportzentrum mit Blick auf Biel] liegen letzte Schneereste auf den Wiesen. Eine eisige Bise fegt über die Jurahöhen. Doch in der hohen, luftigen «End der Welt»-Sporthalle schafft die Wintersonne eine fast sommerlich schattige Stimmung. Helle Kinderstimmen mischen sich mit Lautsprecherdurchsagen. Hunderte von dünnen, bleichen Bubenund Mädchenbeinen wimmeln über Stufen und durch Korridore, bewegen sich wie Fischschwärme bald hierher, bald dorthin. Aus Kostengründen legen die Master-Leichtathleten ihre Schweizer Meisterschaft mit einem Jugendsport-Meeting zusammen.

Margaritha bahnt sich ihren Weg ins Untergeschoss. Die Startnummernausgabe ist bereits belagert. Die Frauen tragen geschlechtsneutrale Trainingsanzüge und jenen lieblos zurechtgestutzten Kurzhaarschnitt, den Coiffeure ihrer grauhaarigen Kundschaft zu verpassen pflegen. Die scharfen, senkrechten Falten im Gesicht der Männer zeugen vom unablässigen Kampf, auch mit 60, 70 oder 80 Jahren die Ziellinie eine Zehntelsekunde schneller und die Latte einen Zentimeter höher zu queren als Gleichaltrige.

Neuankömmlinge werden wie alte Klassenkameraden bei einem Jahrgängerfest begrüsst. Hände klatschen auf Schultern, Rücken und Arme. Bestätigend pufft man sich in die Seite. Klar sind sie alle Konkurrenten. Jetzt aber überwiegt der frohe Überlebenstrotz: Wieder ein Jahr vergangen und noch immer dabei!

Dass dies tatsächlich an ein medizinisches Wunder grenzt, beweist die gängige Begrüssung: «Was macht dein Knie?» Manchmal ist es auch der Ellbogen, die Achillessehne oder eine neue Hüfte. Die einen sind noch immer blutverdünnt, die andern haben erst gestern das Antibiotikum oder den Asthmaspray abgesetzt. Selbst neue Herzklappen oder eine Krebsoperation sind für einen Master kein Grund zum Aufgeben.

Fragen zu ihrer Person kontern die Seniorensportler mit einem Sperrfeuer von Zahlen. «38,50» sagt einer. «1,48» der andere und die dritte «26». Die persönliche Bestleistung war 1997 mit 40,07 in Durban oder 2002 in Potsdam mit 3,30. Die Leistungseinbusse von 2009 bis 2017 betrug in der einen Disziplin 2,7 Meter, in der andern von 2012 bis heute 3,5 Sekunden. Dann werfen sie einen Blick auf den Notizblock, um zu kontrollieren, ob auch alle Daten korrekt notiert wurden.

Möchte man mehr als Zahlen wissen, sinkt die Aufmerksamkeit rapide. Fragt man gar, warum sie sich täglich bis an die Grenze belasten, sich Strapazen unterziehen, die ihnen ihr Beruf nie abverlangt hatte, oder sich an Wettkämpfen immer neu vermessen und klassifizieren lassen, suchen ihre Augen unauffällig nach einem Fluchtweg. Genauso gut könnte man sie fragen, warum sie atmen, trinken und essen.

Ein Einziger steht in einer schwarzen Kluft da; er sieht aus, als käme er direkt aus dem Büro. Das weisse Haar ist sorgfältig in die Stirn gekämmt; über dem Dreitagebart sitzt eine runde Corbusier- Brille. Der Italiener Pino Pilotto ist 65 und Berufsschullehrer aus Luzern. «Ich mache 20-Kampf, und 10-Kampf sowieso. Sportlich bin ich omnivor», stellt er sich vor.

Das war er schon als Jugendlicher. Doch damals in Altdorf gab’s stets Mitschüler, die hinter ihm die Arme hochrissen und trotzdem «Erster!» schrien. Oder ihn beim Fussball foulten. Zurückschlagen durfte er nicht. «Wir sind hier nur geduldet», hatte ihn sein Vater, ein Maurer, gewarnt.

Später verdrängten Politik, Beruf und Familie den sportlichen

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